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Zum Gehorsam

 

Inhaltsverzeichnis

 

Die klassischen Sätze und ihre Geschichte 

„Sei brav!“ „Benimm dich!“ „Das gehört sich nicht!“ - all diese Sätze scheinen teilweise von der Erziehungsoberfläche verschwunden zu sein. Zumindest in manchen Familien. Da sind wir doch auf dem Wege der Besserung hin zu einer frei(er)en Entfaltung der Persönlichkeit. Schön wär's. War die Erziehung zum Gehorsam früher zumindest gut sichtbar, so dass die ihr Unterworfenen relativ klar benennen konnten, wer der Täter und wer das Opfer war – bis auf die besonders schmerzvoll gequälten Fälle, die dann zum Ausgleich zum berühmten „Hat mir nicht geschadet“ oder „Ich hatte eine schöne Kindheit“ greifen, sind die Mechanismen heute subtiler. Auch Belohnungen, Ehrgeiz, selbst die normale Höflichkeit sind Erscheinungen und Ausdrücke des Gehorsams. Durch Gaslighting-Techniken wird die Wahrnehmung so manipuliert, dass die Unterwerfung, das Brav-Sein verschleiert wird. Dadurch verfestigen sich sowohl die gesellschaftlichen und die politischen Machtstrukturen als auch die Persönlichkeitsstrukturen, die von der gerne proklamierten Vielfalt nicht weiter entfernt sein könnten. All die bunten Kleider, die verschiedenen Hobbys, die vielfältigen Familienformen und Lebenswege täuschen über die zugrundeliegende Struktur des Gehorsams.

Das Milgram-Experiment

Schwarz auf Weiß waren diese Strukturen im Milgram-Experiment zu sehen. Stanley Milgram ließ Probanden in der Lehrerrolle erforschen, wie Schüler (das waren Schauspieler) am besten lernen – das mithilfe von Elektroschocks. Unter psychosomatischen Symptomen, die auf den inneren Konflikt deuteten, drückten die meisten Lehrer fleißig den Schock-Knopf, wenn der Schüler mal wieder eine falsche Antwort gab. Viele scheuten nicht davor zurück, den potentiell tödlichen Schock zu verpassen. Soll das die wahre Natur des Menschen sein? Keinesfalls. Die wahre Natur zeigte sich hier doch im Schwitzen und Zittern – der Mensch weiß, dass das, was er da tut, nicht in Ordnung ist. Und trotzdem drückt er auf den Knopf. Die Autorität im weißen Kittel sagt ja auch, dass das so sein muss. Zu Forschungszwecken. Dabei braucht es nicht einmal eine Autorität im weißen Kittel, die durch den Raum läuft. Praktisch alle von uns haben sie innerlich fest installiert. „Was werden die anderen denken?“ „Wenn ich die Wahrheit sage, könnte ich meinen Job verlieren.“ „Wenn ich noch diese Untersuchung für mein Bonusheft mitmache, wird mir die Krankenkasse einen Bonus bezahlen.“ „Wenn ich dem Chef zeige, wie gut meine Leistung ist, wird er es sicherlich anerkennen.“ „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ „Wenn ich der Nachbarin nicht höflich zuhöre, und sie hat ja so viele Probleme, bin ich kein guter Mensch.“ (Hier bitte um eigene Sätze ergänzen ;-) Und die Leckerlis, auf die man gern mal „freiwillig“ reinfällt, nicht vergessen!)

Der Gehorsam beruht auf Machtungleichheit

Diese Strukturen, sowohl innerlich, also psychisch, als auch äußerlich, also in der Gesellschaft und der Politik, basieren auf einem Machtungleichgewicht. Es gibt ein Oben und ein Unten. Der oben hat mehr Macht als der unten. Logisch. Damit jemand mehr Macht haben kann, muss ja jemand auf seine Macht verzichten. War es früher offensichtlich, ist es heutzutage häufig entweder subtiler oder moralisch aufgeladen oder schuldbeladen. Beispiele: „Die Armen sind selbst daran schuld, dass sie arm sind, denn sie strengen sich nicht genug an.“ Oder die Tatsache, dass Menschen in sozialen Berufen zu wenig verdienen gemessen an dem, was sie leisten. Gehen sie, wie z. B. die Erzieher oder die Krankenpfleger auf die Straße, werden sie häufig mit dem Vorwurf konfrontiert, sie wären asozial oder unsolidarisch („Aber die Kinder können nicht in den Kindergarten gehen!“ „Aber die Patienten werden nicht versorgt!“). Das erschwert es, den berechtigen Anspruch auf das Wiedergewinnen des eigenen Machtbereichs durchzusetzen. Überhaupt ist es schwieriger, den Machtbereich zurückzugewinnen, den man „freiwillig“ aufgegeben hat, als den von vornherein zu verteidigen. Den Mächtigen gegenüber. Aber auch den installierten inneren Mächtigen gegenüber. Wenn ich solche Prozesse der Selbst-Ermächtigung begleite, höre ich häufig, dass der Klient keine innere Erlaubnis für die Selbstermächtigung und die Abgrenzung hat. Logisch. Zum Einen hat er gelernt, dass die Selbst-Ermächtigung ihn in Gefahr bringen könnte, daher rührt der „freiwillige“ Verzicht auf die eigene Macht. Zum anderen sind da einige Mechanismen und innere Autoritäten am Wirken. „Das ist egoistisch, auf den eigenen Machtbereich nicht zu verzichten!“ „Man wird mich nicht mehr mögen und lieben, wenn ich voll zu mir und meinem Machtbereich stehe.“ „Ich bin ein schlechter Mensch, wenn ich anderen meinen Machtbereich nicht überlasse.“ „Ich werde aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und sterben. Alle Beziehungen werden kaputt gehen. Ich werde ganz alleine da stehen.“ „Das muss man so machen. Das habe ich schon immer so gemacht.“ „Wenn ich mich auf das Neue einlasse und meinen Machtbereich zurückerobere, weiß ich nicht, was dann passiert. Es ist mir fremd und unbekannt. Und vielleicht wird alles nur noch schlimmer.“

Gehorsam –  DAS Thema in den Büchern von Arno Gruen und das Zitat von Howard Zinn

Zum Thema Gehorsam hat Arno Gruen besonders viel geschrieben. Er hat anhand von vielen Fallbeispielen aufgedeckt, wie die entsprechenden psychischen Strukturen (s. sein Buch „Der Fremde in uns“; s. auch Die Konsequenzen des Gehorsams für die Entwicklung von Identität und Kreativität von Prof. Dr. Arno Gruen) entstehen und wie sich die gesellschaftliche Form perpetuiert. Er macht aber auch Hoffnung, dass wir artgerecht leben könnten. Das geht nicht von oben oder von unten, sondern aus der Mitte. Jeder, der dazu fähig ist, fängt damit an. An dieser Stelle greife ich aber ein Zitat von einem anderen Mann auf, der für seine Rolle in den Bürgerrechts- und Friedensbewegungen in den USA bekannt war:

„Historisch gesehen resultieren die schlimmsten Dinge - Krieg, Völkermord, Sklaverei - nicht aus Ungehorsam, sondern aus Gehorsam.“ - Howard Zinn

Verdrehungen sind äußerst typisch für Gehorsamsstrukturen. Wie kommen wir daraus?

Was für eine Verdrehung seitens der Gehorsamen (Damit sind sowohl die Mächtigen als auch die Nicht-Mächtigen gemeint, denn auch die Mächtigen sind nicht frei.)! Sie sind fest davon überzeugt, dass die oben aufgezählten und auch alle anderen schrecklichen Dinge passieren würden, wenn Menschen frei werden. "Wenn jeder tut, was er will - um Gottes willen!" Sie haben regelrecht eine panische Angst davor und unterdrücken als Folge immer wieder und immer mehr die eigene und die fremde Freiheit. Das Resultat sind eben diese schrecklichen Dinge... Und dann geht es wieder von vorne los. Ob wir jemals diesen Kreislauf kollektiv unterbrechen werden?... Ich hoffe es! Fangen wir jetzt damit an. Jeder für sich! Sie auch. Sind Sie wirklich ein mehr schlecht als recht domestiziertes Hauskätzchen, zu dem man Sie erzogen hat? Oder doch ein Tiger mit eigenem Revier? Welchen Regeln und Gesetzmäßigkeiten gehorchen Sie? Den äußeren, menschengemachten oder den inneren und universellen? Gehorchen, also horchen, hinhorchen, hören, hinhören, ist nicht per se schlecht. Es darf aber keine Unterwerfung beinhalten. Es ist ein Unterschied, ob ich den menschengemachten Regeln gehorche und mich dafür unterwerfe oder aber meinen inneren Regeln und den universellen Gesetzen gehorche (also sie klar und deutlich höre und mich entsprechend ausrichte) und mich damit organisch in die Zusammenhänge des Lebens einfüge. Ersteres wird mir Symptome und Krankheiten bringen. Letzteres ein sinnerfülltes Leben mit all seinen Höhen und Tiefen. Auf geht’s!

 

Fragen zum Nachforschen und Ergründen

  • Wie bin ich aufgewachsen? Mit vielen Regeln und Pflichten oder relativ frei? Wie war ich als Kind? Eher anpassungsbereit oder rebellisch? Oder wechselten sich die Phasen ab? Wurde ich bestraft? Wenn ja, wie? Konnte / kann ich klar unterscheiden, wer der Täter und wer das Opfer war? Oder neige ich dazu, das Geschehene zu relativieren, zu erklären, Mitleid zu haben und die Schuld auf mich zu nehmen ("Aber sie hatten es ja auch schwer mit mir")? Was würde passieren, wenn ich damit aufhören würde?
  • Habe ich schon einmal den Satz "Das hat mir nicht geschadet" gehört oder sogar selbst gesagt? Worum genau ging es da? Wo versteckt sich der Empathiebruch? Welche Strafe oder Manipulation hat mich kaltherzig (mir selbst gegenüber) werden lassen? Welche Bedürfnisse durften / dürfen nicht an die Oberfläche kommen?
  • Habe ich mich tatsächlich irgendwann abgenabelt und den Sprung ins eigene Leben geschafft? Oder wirken die (unsichtbaren) Bindungen noch und beeinflussen stark mein Denken, mein Fühlen und mein Verhalten?
  • Wenn ich Teilnehmer im Milgram-Experiment gewesen wäre, Hand aufs Herz: Wie hätte ich reagiert?
  • Ist mir klar, dass jede Form von Belohnung und Lob ebenfalls Manipulation, Übergriffigkeit und im Endeffekt auch Gewalt darstellen? Oder wehre ich diese Erkenntnis vehement ab, nach dem Motto: "Das ist aber gut gemeint und schadet doch niemandem!" Oder: "Das ist doch eine gute Motivationshilfe." An welchen Stellen und durch wen lasse ich mich durch Belohnung und Lob motivieren? Will ich Anerkennung vom Chef? Oder sammle ich Punkte auf Kundenkarten? Oder habe ich es sogar verinnerlicht, indem ich ein Ehrgeizmuster oder gar eine perfektionistische Haltung entwickelt habe? Oder habe ich ein altruistisches Muster entwickelt: Ich verzichte auf meine Macht und meine (berechtigten) Forderungen und Ansprüche, bin dann ein guter, netter, hilfsbereiter usw. Mensch und erwarte oder erhoffe mir dafür einen Lohn?
  • Was würde passieren, wenn ich mir meine Macht komplett zurückholen würde? Habe ich Angst davor? Wenn ja, wovor genau habe ich Angst? Was könnte schlimmstenfalls passieren? Und dann? Was wäre noch schlimmer als das?

Interessant sind ggf. auch die Fragen zum Artikel "Zur Selbstverantwortung".

 

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