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Die Seele und die Psyche, ein Märchen

 

Es lebte einmal ein unzertrennliches und ungleich-gleiches Zwillingspaar. Sie hatten wundervolle und exotisch klingende Namen. Da sie in unserer Sprache unaussprechlich sind, werden sie im Volksmund die Psyche und die Seele genannt. Obwohl als eineiige Zwillinge geboren, waren sie aber doch innerlich wie äußerlich verschiedene Wesen. Die Psyche, dunkelhaarig, etwas scharf und gleichzeitig verspielt blickend, auch ab und zu etwas aufbrausend und durchaus eitel, war mehr auf Abenteuer und Erleben aus. Die Seele, mit hellen Haaren und Augen gesegnet, war die Seelenruhe in Person. Morgens schwamm sie ihre Runden im See und die Schwester sah ihr von Weitem zu, wenn sie nicht gerade reiten war.

Irgendwann war die Psyche nicht mehr zufrieden. Auf ihrem Heimatplaneten hatte sie alles erprobt und erlebt. So sehr es sie auch schmerzte, konfrontierte sie ihre Schwester mit ihrer Abreise. Die Schwester, so still und weise, war aber ganz und gar nicht überrascht, sah sie die Trennung doch schon kommen. Also willigte sie ein, versprach aber auch jederzeit auf ihre Schwester aufzupassen: "Wir sind mit einem unsichtbaren Seil verbunden. Wann auch immer du mich brauchst, zieh daran, und ich werde für dich da sein. Ich werde dann in deinen Träumen erscheinen und dir helfen. In größerer Not werde ich dir Helfer schicken." Beide vergossen ein paar Tränen und so machte sich die Psyche mit ihrem kleinen Rucksack auf den Weg.

Unterwegs erlebte sie einiges und teilte ihre Erlebnisse mit ihrer Schwester daheim, aber nach kurzer Zeit war es ihr nicht genug. So trieb es sie noch weiter weg von ihrem Heimatplaneten, bis sie irgendwann auf der Erde landete, wo ihr der Atem eines Menschen eingehaucht wurde. Das Seil war am Ende seiner Spannkraft. Manchmal fühlte es sich so an, als wäre es bereits durchtrennt. Darum kümmerte sich die Psyche aber nicht. Sie war so fasziniert von der Welt der Menschen, dass sie sich und ihre Schwester völlig vergaß. All die Farben, die Gerüche, die Töne, die Abenteuer – für all das war sie sogar bereit ihre Seele zu verkaufen.

In der Zwischenzeit fing die Seele an, sich Sorgen zu machen, obwohl es nun gar nicht zu ihrem Temperament passte. Ihre Seelenruhe war gestört. Sie zog immer wieder am Seil, erschien in Träumen, schickte Helfer, aber kaum etwas kam zurück. Sie wusste nicht, was sie sonst machen sollte, also zog sie in ihrer Verzweiflung noch stärker. Als sie einmal besonders stark am Seil zog, war die Psyche gerade dabei, Auto zu fahren. Die Schwester zog so doll, dass die Psyche die Kontrolle verlor und gegen einen Baum prallte. Der Aufprall erschreckte die Psyche, weckte sie aber nicht auf. Sie ließ sich oberflächlich behandeln und machte dann weiter wie bisher. Sie versuchte, den Unfall und den Aufprall zu vergessen, was ihr allerdings nicht gelang. Immer wieder sah sie dieselben Bilder, die sie jagten und verfolgten. Nun verzweifelte sie, versuchte aber es umso mehr zu verstecken. Sie ging arbeiten, unterhielt sich mit Leuten, aß exotisches Essen, erlebte spannende Abenteuer, aber nichts war wirklich erfüllend. Eine unbestimmte Sehnsucht nagte an ihr. Die Seele rief sie, aber die Psyche hörte sie nicht. Sie stellte ihre Ohren auf stumm und verkrampfte sich so sehr, dass sie immer krümmer und kränker wurde. Auf keinen Fall wollte sie ihren Widerstand aufgeben und sich erinnern. Die Seele ließ aber nicht locker. Auch wenn sie sonst so seelenruhig ist, so verfügt sie über ungeahnte Kräfte und ein unglaubliches Durchhaltevermögen: Wenn sie etwas will, wird sie es erreichen. Es ist nur eine Frage der Zeit.

Endlich gelang es der Seele, zur Psyche durchzudringen. Die Psyche war am Boden zerstört. "Was habe ich bloß getan?", sagte sie; sie führte noch ihre letzten Kampfmanöver aus, die sie davor schützen sollten, sich alles ansehen zu müssen, aber auch damit scheiterte sie. Die Seele erwiderte: "Es ist alles in Ordnung. Es ist einfach nur Zeit, nach Hause zu kommen. Mach dich auf den Weg." Die Psyche atmete erleichtert auf und fing an, ihre Koffer zu packen. Statt eines Rucksacks hatte sie mittlerweile tonnenweise Gepäck. Mit diesem Maß an Koffern und Taschen würde sie nicht weit kommen auf ihrer Reise und so musste sie als Erstes anfangen, ihre Habseligkeiten zu sortieren, zu verkaufen und zu verschenken. Die Seele begleitete sie wohlwollend und geduldig dabei aus der Ferne und schickte ihr auch viele fleißige Helfer, so dass die Psyche nicht alles allein machen musste. Die Zeit verging und so war die Psyche endlich bei ihrem kleinen Rucksack angekommen, mit dem sie leicht zurückreisen konnte. Erfüllt von all dem, was sie auf ihrer Reise erlebt hatte, kehrte sie verwandelt zu ihrer Schwester zurück. Die beiden erkannten sich kaum wieder: Nun glichen sie sich wie echte Zwillingsschwestern!

 

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Bildnachweis:
Bild von Stefan Keller auf Pixabay